Trotz wachsender Wirtschaft stellt die Existenzsicherung viele Familien in Indien vor eine grosse Herausforderung. Der Grossteil der Inder:innen arbeitet auf dem informellen Arbeitsmarkt, meist ohne Sozialversicherungen oder Arbeitsverträge und oft unter prekären Arbeitsbedingungen. Der Zugang zum Arbeitsmarkt sowie zu fair bezahlten Jobs ist von eklatanten Ungleichheiten geprägt: Insbesondere Frauen arbeiten in schlecht bezahlten (Gelegenheits-)Jobs, beispielsweise in der Landwirtschaft oder als Haushaltshilfe. Für Jugendliche aus armutsbetroffenen Familien ist es schwierig, ohne guten Bildungsabschluss oder Arbeitserfahrung eine Anstellung zu finden, die die Lebenshaltungskosten deckt.
Mit Berufsbildungskursen Türen öffnen
Gemeinsam mit einer lokalen Partnerorganisation in Hyderabad hat Usthi 2008 ein Berufsbildungszentrum eröffnet. Die praxisnahen Ausbildungskurse bieten den Absolvent:innen die Chance auf fair bezahlte Anstellungsmöglichkeiten und ermöglichen ihnen, sich ein Leben in finanzieller Unabhängigkeit aufzubauen oder das Familieneinkommen zu stärken. Jedes Jahr starten über 1’000 junge Frauen und Männer mit neu erworbenen Fähigkeiten und einem anerkannten Berufsbildungszertifikat in einen neuen Lebensabschnitt.
Harika*, Schneiderin
Für Harika eröffnet der Berufsabschluss als Schneiderin die Möglichkeit, sich eine unabhängige Zukunft aufzubauen, losgelöst von den Schulden und finanziellen Nöten, die ihre Kindheit prägten. Als sie ein Mädchen war, verschluckte die Alkoholsucht ihres Vaters den Grossteil des hart verdienten Familieneinkommens. Der Familie reichte das restliche Geld kaum zum Überleben und Harika war gezwungen, die Schule nach der 10. Klasse abzubrechen. Als Jugendliche nahm sie auf dem lokalen Markt Gelegenheitsjobs an, für ihre Arbeit verdiente sie jedoch kaum etwas.
Einige Jahre später entdeckte Harika in der lokalen Zeitung eine Anzeige des Berufsbildungszentrums und schrieb sich für den Kurs als Schneiderin ein. Noch während der sechsmonatigen Ausbildung fand sie eine Anstellung in einem Textilverarbeitungszentrum in der Nähe. Heute verdient Harika vier Mal so viel wie vor der Berufsausbildung. Ihr Einkommen ermöglicht ihr, die Schulden ihres Vaters abzubezahlen und sich eine selbstbestimmte Zukunft aufzubauen.
Siri*, Labortechnikerin
Siri konnte dank der Berufsausbildung wieder Hoffnung schöpfen. Siri verlor ihren Vater bei einem Verkehrsunfall. Damals noch ein junges Mädchen konnte sie den Schock kaum verarbeiten und brach die Schule ab. Ihre Mutter versuchte als Tagelöhnerin en Unterhalt der Familie zu bestreiten, doch bald darauf musste auch Siri mit Gelegenheitsjobs zum Familienunterhalt beitragen. Rückblickend erzählt sie, damals habe sie die Enttäuschung gepackt, sie habe für die Zukunft keine Hoffnung mehr gesehen.
An einer Veranstaltung der Präventionskampagne gegen Menschenhandel einige Jahre später traf Siri auf eine Mitarbeiterin unserer Partnerorganisation, die sie ermutigte, eine Berufsausbildung zu machen. Siri liess sich überzeugen, den Kurs als Labortechnikerin anzufangen. Während den sechs Monaten der Ausbildung wohnte sie auf dem Campus. Die Mitarbeiterinnen begleiteten sie eng und Siri erhielt psychologische Hilfe. Mit hervorragenden Ergebnissen an den Prüfungen und durch bestärkende Praktika-Erfahrungen gewann sie zunehmend Motivation und Selbstvertrauen. Als Siri kürzlich ihre Ausbildung abschloss, erzählte sie dem Team: «Ich habe jetzt das Gefühl, wieder träumen zu können.» Siri freut sich, zukünftig auf eigenen Füssen zu stehen und ihre Mutter unterstützten zu können.

Es geht um viel mehr als ein verbessertes Haushaltsbudget: Kompetenzen, Selbstvertrauen und Zuversicht
Bereits während der Ausbildung oder kurz danach finden rund 90% der Teilnehmenden eine gute Anschlusslösung. Dank Jobvermittlungsanlässen können sich die frischen Absolvent:innen eine Anstellung sichern. Einige entscheiden sich auch dazu, mit einem kleinen Geschäft selbständig zu werden. Neben der merklichen Verbesserung des Haushaltsbudgets entfaltet der Berufsbildungsabschluss eine tiefgreifende Wirkung auf das Selbstvertrauen der jungen Menschen. Die erworbenen Kompetenzen und die neu geknüpften Kontakte machen Mut für die Zukunft.
Die Berufsausbildung öffnet Türen und das nicht nur für die jungen Frauen selbst (rund 90% der Absolvent:innen sind Frauen), sondern auch für die nächste Generation. Viele Mütter berichten, dass ihnen das verbesserte Einkommen ermöglicht, die Schulgebühren für ihre Kinder zu zahlen. Dank der Berufsausbildung können die Familien ihren Kindern eine bessere Ausbildung zukommen lassen, als es für sie selbst möglich war. Ein erster Schritt, um aus der Armutsspirale auszubrechen.
*Um die Privatsphäre der jungen Frauen zu schützen, wurden die Namen geändert und Symbolbilder aus dem Berufsbildungszentrum verwendet.